Ein Gespräch über den Buchmarkt und die Wirkung von Literatur

Martin Schulz – der Büchermensch

Martin Schulz, der Vorsitzende der Friedrich-Ebert-Stiftung, hat einen engen Bezug zu Büchern. (Bild: FES/Reiner Zensen)

Vor seinem Einstieg in die große Politik führte Martin Schulz 13 Jahre lang eine eigene Buchhandlung. Sein Faible für Bücher hat er sich der ehemalige Präsident des Europäischen Parlaments bis heute bewahrt. Zeit für eine Tour d’Horizon rund um das gedruckte Buch. Schulz, inzwischen Vorsitzender der Friedrich Ebert-Stiftung, erklärt, warum Bücher für das Funktionieren einer demokratischen Gesellschaft unverzichtbar sind.

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Wer sich im Verzeichnis der Mitglieder des Deutschen Bundestags deren Berufe ansieht, dem fällt Martin Schulz sofort ins Auge: „Buchhändler” lautet seine Berufsbezeichnung. Diesen Beruf hat er nicht nur erlernt, er hat über ein Jahrzehnt auch eine eigene Buchhandlung geleitet.

print.de: Herr Schulz, die Coronakrise trifft den Buchmarkt in vielerlei Hinsicht: Buchmessen finden nicht statt, Buchhandlungen können keine Autorenlesungen anbieten, Verlage verschieben Neuerscheinungen oder streichen sie ganz. Dadurch gehen auch Druckereien Aufträge verloren. Was ist zu tun, um die Vielfalt in der Buchbranche zu erhalten und weiter zu fördern?

Schulz: Leserinnen und Leser sollten vor allem versuchen, den stationären Buchhandel zu unterstützen, der immer noch in seiner Vielfältigkeit die Programmbreite der Verlage garantiert. Wenn alles nur noch über ganz wenige Großverlage und über Amazon oder ähnliche Unternehmen läuft, dann wird die bunte Vielfalt in Gefahr geraten. Und deshalb glaube ich, dass das Unterstützen des Buchhandels vor Ort aus Sicht der Verbraucher und der interessierten Leserschaft ein guter Schritt wäre in der Pandemie.

print.de: Bücher haben ja mehrere Funktionen: Sie dienen der Unterhaltung, aber auch der Bildung und letztlich auch der Herzensbildung. Oder ist das zu pathetisch ausgedrückt?

Schulz: Überhaupt nicht. Das gilt mehr denn je. Das ist etwas, was wir brauchen. Wir leben in einer Zeit der verrohten Sprache, insbesondere in den sozialen Netzwerken. Ich glaube, dass der Anspruch von Literatur, auch kontroverseste Themen in einer respektvollen und angemessenen Art und Weise zu behandeln, in dieser angespannten Zeit mehr denn je erforderlich ist.

 

„Wir leben in einer Zeit der verrohten Sprache, insbesondere in den sozialen Netzwerken.“

 

print.de: Wenn wir uns aktuell die schulische Situation anschauen, dann beobachten wir hier eine deutliche Digitalisierung. Befürchten sie nicht, dass damit eine gewisse Entwöhnung vom Buch einhergeht, dass junge Leute vielleicht weniger Bezug bekommen zum Buch?

Schulz: Eine interessante Frage. Da ist die Entwicklung offen. Mein Eindruck der letzten Jahre war, dass das Lesen wieder attraktiver geworden ist. Das hängt natürlich immer auch von den Elternhäusern ab. Wenn Eltern ihre Kinder anhalten zu lesen, wenn sie sie früh mit Büchern vertraut machen, dann ist es für die Kinder leichter, den Zugang zum Buch zu finden.

Ich habe es in den letzten Jahrzehnten so erlebt: Früher war das Buch das gängige Instrumentarium der Wissensvermittlung, der Bildung, auch der Herzensbildung und auch der Zerstreuung. Dann kam das Fernsehen, danach das Internet. Damit wurde das Buch unattraktiver. Zwischenzeitlich ist das Internet beherrschend für unser Leben. Und jetzt plötzlich wird das Buch interessanter, weil es etwas anderes ist als das, was man ständig um sich herum hat. Und deshalb könnte es sehr wohl zu einer Umkehrung kommen, dass das Bücherlesen wieder eine Abwechslung vom digitalen Alltag ist. Darin liegt eine Chance. So erkläre ich mir auch den einen oder anderen Zuwachs, den es im Bereich des Buchhandels gibt.

 

„Und jetzt plötzlich wird das Buch interessanter, weil es etwas anderes ist als das, was man ständig um sich herum hat.“

 

print.de: In diese Richtung weisen auch einige Statistiken, so auch aus den USA. Sie zeigen, dass gerade junge Leute wieder stärker an Büchern interessiert sind. Durch Ihre internationale Erfahrung haben Sie ja auch einen guten Überblick über die Buchmärkte in anderen Ländern. Frankreich zum Beispiel gilt als großes Bücherland. In welchen Ländern hat das Buch einen besonders hohen Stellenwert? Und hat das Auswirkungen auf die Politisierung einer Gesellschaft?

Schulz: Eindeutig. Die Bundesrepublik Deutschland ist, was die Publikationsdichte angeht, nach wie vor der Rekordhalter in Europa. Deshalb glaube ich, dass Deutschland schon auch immer noch ein Land der Literatur ist. Sie haben völlig recht, Frankreich ist ein Land mit einer traditionell starken Bücher- und Verlagslandschaft. Aber auch der englischsprachige Raum, die USA im Besonderen, haben eine sehr lebendige Literaturlandschaft.

print.de: Seit einigen Monaten sind Sie auch der Vorsitzende der Friedrich-Ebert-Stiftung. Ein wichtiges Thema ist hier die Bildungsgerechtigkeit. Spielen Bücher in diesem Kontext eine Rolle?

Schulz: Die FES hat als Schwerpunkt ihrer Arbeit politische Bildung, Demokratieförderung national und weltweit und Studienförderung. Das geht nicht ohne Bücher. Unser Verlag, der Dietz-Verlag, kämpft wie alle Verlage in diesen schwierigen Zeiten, in denen wir weiterhin die Preisbindung und ein flächendeckendes Netz an Buchhandlungen brauchen.

print.de: Lassen Sie uns bitte noch auf Ihren eigenen Gebrauch von Büchern kommen. Gedruckte Bücher oder E-Books?

Schulz: Ich lese gedruckte Bücher.

print.de: Damit punkten Sie bei uns. Dann nehmen wir auch an, dass Sie Bücher sammeln. Umgeben Sie sich tatsächlich mit Ihren Büchern?

Schulz: Ja, der Gang durch meine persönliche Bibliothek ist der Gang durch mein Leben. Ich kann zu jedem Buch, das ich gelesen habe, das in irgendeinem Regal bei mir im Haus steht, sagen, wann und wo ich es erworben habe. Ich weiß, ob es ein Geschenk war oder ob ich es auf dem Flohmarkt gekauft habe, ob ich es als Auszubildender oder später als Buchhändler erhalten habe. Und ich kann sagen, wann ich es gelesen habe.

 

„Der Gang durch meine persönliche Bibliothek ist der Gang durch mein Leben. Ich kann zu jedem Buch sagen, wann ich es gelesen habe.“

 

print.de: Bücher spielen also eine wichtige Rolle in der persönlichen Erinnerungskultur. Was lesen Sie aktuell?

Schulz: Zurzeit lese ich erneut Barbara Tuchman, „Der ferne Spiegel“. Vor ein paar Tagen habe ich damit angefangen. Die amerikanische Historikerin beschreibt das dramatische 14. Jahrhundert. Warum lese ich das? Das ist eine Geschichte der Pest in Europa, dieser Pandemie, die es vor mehreren Jahrhunderten in dieser extremen Form schon einmal gegeben hat. Und es ist irre, wenn man liest, welche Parallelen es zu der heutigen Situation gibt.

print.de: Was für ein Lesetyp sind Sie? Lesen Sie mehrere Bücher gleichzeitig oder eines nach dem anderen?

Schulz: Ich lese mehrere Bücher gleichzeitig, zurzeit sind es drei: Ich lese von Sigrid Damm die Biographie über Friedrich Schiller: „Das Leben des Friedrich Schiller – eine Wanderung“. Das steht schon länger bei mir, aber ich bin bisher nie dazu gekommen, es zu lesen. Dann lese ich, wie gesagt, von Barbara Tuchman „Der ferne Spiegel“. Und erst gestern habe ich ein Buch begonnen von Jörn Leonhard, ein Historiker der Universität in Freiburg, über den Versailler Vertrag und seine Auswirkungen. Der Originaltitel lautet „Der überforderte Frieden: Versailles und die Welt 1918-1923“. Das ist ein dicker Wälzer, der mich aber schon auf den ersten 10, 15 Seiten richtig begeistert hat.

print.de: Sie lesen also mit Vorliebe historische und politische Bücher?

Schulz: Das kann man so nicht sagen. Ich lese auch viel belletristische Literatur.

print.de: Herr Schulz, vielen Dank für das Gespräch.

(Das Interview erschien im Fachmagazin Deutscher Drucker, Nr. 4/2021, S. 14-16)

 

Martin Schulz

Martin Schulz absolvierte von 1975 bis 1977 eine Ausbildung zum Buchhändler. Anschließend war er von 1977 bis 1982 als Buchhändler für diverse Verlage und Buchhandlungen tätig. 1982 gründete er eine eigene Buchhandlung in Würselen. Als er 1994 als Abgeordneter ins Europäische Parlament gewählt wurde, verkaufte er sein Unternehmen. Im Europäischen Parlament wirkte Schulz bis 2017, davon seit 2012 als Präsident. 2017 trat Schulz für die SPD als Kanzlerkandidat an und wurde Mitglied des Bundestags. In den Jahren 2017 bis 2018 fungierte er als Vorsitzender der SPD. Seit Dezember 2020 ist Martin Schulz Vorsitzender der Friedrich-Ebert-Stiftung.