»Es gibt nicht Industrie 4.0 schlechthin, sondern nur für jedes Unternehmen eine individuelle Lösung.« Und schon gar nicht führe Digitalisierung von selbst zu smarten Produktionsprozessen ohne mediale Brüche. Das sagt Univ.-Prof. Dr.-Ing. Sigrid Wenzel. Am Fachbereich Maschinenbau der Universität Kassel leitet sie im Institut für Produktionstechnik und Logistik das Fachgebiet Produktionsorganisation und Fabrikplanung.
Digitalisierung in der Druckindustrie
Den Begriff der Digitalisierung verwendet Sigrid Wenzel nicht gern. Sie spricht von »digitaler Transformation«, da dieser Begriff den Veränderungsprozess besser beschreibt. Es gehe nicht um den Einsatz der IT um ihrer selbst willen, sondern um die strukturierte Verbesserung der einzelnen Prozesse in einem umfassenden Gesamtsystem. Erst wenn die bisherigen Prozesse analysiert und hinsichtlich ihrer Verbesserungspotenziale fortentwickelt seien, werden diese neuen Prozesse im Gesamtsystem implementiert und mit IT unterstützt. Dafür benötige ein Unternehmen oder eine Verwaltung geeignete Fachleute mit Kenntnissen in Betriebswirtschaft, Informatik und Technik, »die mit allen reden, die Herausforderungen global betrachten, und die jene Aufgaben, die sie daraus ableiten, disziplinübergreifend lösen können«.
Sigrid Wenzel beschreibt die betriebliche Wirklichkeit, wie sie diese als Kooperationspartnerin von Unternehmen erlebt: »Es reden zwar fast alle über Digitalisierung und Industrie 4.0, aber längst nicht alle haben ihren optimalen Weg zur Umsetzung gefunden.« Einige Unternehmen, vor allem große Konzerne, seien in der Nutzung digitaler Planungsmethoden und der Implementierung von IT-gestützten Prozessen schon sehr weit. »Andere Unternehmen kämpfen aber noch mit Datenaustauschformaten und sind eher bei Industrie 2.5.«, so Wenzel. Dabei betrifft das Thema alle Druckdienstleister, ob Verpackungsdrucker, Akzidenzdrucker oder bildorientierte Großformatdrucker.
Zu den gängigsten Denkfehlern rund um das Thema »Industrie 4.0« zählen:
• Optimierung von Teilsystemen hilft
Oftmals fehle der Blick auf das Ganze. »Es dominiert in vielen Bereichen noch die Einzelbetrachtung«, sagt die Professorin. Die Unzufriedenheit wachse, weil irgendein Prozess zu langsam laufe, die Kosten an einer Stelle zu hoch seien oder der Service in einem anderen Segment unbefriedigend sei. Dann werde dieses eine Teilsystem optimiert und seine Leistung maximiert, aber die Effizienz im Gesamtsystem steige nicht: »Das lokale Optimum führt meistens nicht zu einem globalen Optimum für die gesamte Fabrik. Nicht jeder Mensch macht sich aber dieses ganzheitliche Denken zu Eigen. Beispielsweise kann ich einen Stau weit hinter mir provozieren, wenn ich im dichten Straßenverkehr mit Tempo 80 auf die Überholspur wechsele, wo der Verkehr mit 110 Kilometer in der Stunde fließt.«
• Industrie 4.0 ist als Softwarelösung nicht zu »kaufen«
Viele Entscheider glaubten zudem heute noch, sie müssten nur auf den fahrenden IT-Zug in Richtung Digitalisierung und Industrie 4.0 aufspringen und eine Softwarelösung von der Stange kaufen, dann lösten sich die Probleme wie von selbst. Das sei falsch. Schlechte Prozesse werden dadurch nicht besser, dass sie mit Software unterlegt werden. Im Gegenteil kann die Implementierung einer Software zusätzlich hohe Kosten und Reibungen im Unternehmen verursachen, ohne suboptimale Prozesse zu verbessern. Daher seien die Ist-Prozesse zunächst zu analysieren, um Soll-Prozesse abzuleiten und diese dann digital zu unterstützen. Das kann auch die digitale Vernetzung der Maschinen in der Produktion über sogenannte cyberphysische Systeme beinhalten. Dann nehmen die Maschinen über Sensoren Informationen aus der Umwelt auf, die ausgewertet werden, um über Aktoren Aktionen in der Umwelt auszulösen. »Auf diese Weise können auch die Maschinen miteinander kommunizieren«, sagt Sigrid Wenzel. Die Voraussetzung für Industrie 4.0 ist eine durchgängige digitale Fabrikplanung; die Modelle der digitalen Fabrikplanung sind die Basis für den digitalen Zwilling einer Produktionsanlage.
• Planungs- und Systemfehler aus Angst intransparent halten
Der Weg der digitalen Transformation ist auch durch soziale Barrieren verstellt. Diesen Schluss legt zumindest die Erfahrung von Sigrid Wenzel nahe: »Wenn wir mit unserem Fachgebiet Prozesse analysieren und mittels digitaler Modelle simulieren, dann schaffen wir Transparenz. Wir decken Planungs- und Systemfehler auf. Finden wir Fehler, besteht bei den Zuständigen oftmals Angst vor Kritik und Sanktionen. Transparenz soll aber Vertrauen in das System schaffen: Wir müssen Fehler als systemische Fehler erkennen, und sie nicht als persönliche Fehler fehlinterpretieren.«
• Die digitale Transformation führt zu Massenarbeitslosigkeit
Die Einschätzung, dass durch die digitale Transformation die Arbeit ausgehe, sei so nicht richtig. »Die Arbeit geht uns nicht aus«, sagt Sigrid Wenzel, »sie verändert sich inhaltlich; Routinetätigkeiten werden weniger; Arbeitsinhalte werden kreativer. Veränderungsprozesse müssen permanent gelebt werden, da sich die IT schnell weiterentwickelt, Netzwerke variieren und die Komplexität wächst exponentiell mit der Vernetzung der Systeme.«
Die Zeiten, in denen eine Ausbildung für ein Berufsleben von 40 Jahren ausgereicht habe, seien vorüber: »Das funktioniert nicht mehr, und es betrifft alle Berufe. Wir können beispielsweise Arbeitsabläufe der Buchhaltung eines Unternehmens automatisieren oder das Schweißen durch Schweißroboter durchführen lassen. Die zugehörigen Berufsfelder benötigen dann zukünftig andere oder erweiterte Qualifikationen als heute.«
Gestalter der Zukunft werden!
»Auch ich weiß nicht, wie das Aufgabenspektrum in vielen Berufszweigen in 20 Jahren aussehen wird«, räumt Sigrid Wenzel ein: »Aber wir müssen uns befähigen, die kommenden Veränderungen zu gestalten. Der Mensch wird unersetzlich bleiben. Aber gefordert sind mehr denn je Kreativität, ganzheitliches Denken und die Fähigkeit zur Kommunikation. Die Schere wird sich weiten zwischen jenen, die kreativ, sozial und prozessfähig sind, und jenen, die diese Fähigkeiten nicht haben. Ich sage meinen Studierenden und den Unternehmern: Seid Gestalter der digitalen Transformation! Ich sehe die digitale Transformation als Chance – denn sie verändert die Arbeitswelt zugunsten aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, sodass wir viel mehr Möglichkeiten haben, Beruf und Familie miteinander zu vereinbaren und in beiden Bereichen aufgehend zu leben. Diese Chance müssen wir nutzen!«
Zur Person:
Univ.-Prof. Dr.-Ing. Sigrid Wenzel leitet das Fachgebiet Produktionsorganisation und Fabrikplanung an der Universität Kassel und ist zudem seit Oktober 2018 Dekanin des Fachbereichs Maschinenbau. Sie ist Vorstandsmitglied der ASIM (Arbeitsgemeinschaft Simulation – eine Arbeitsgemeinschaft im deutschsprachigen Raum zur Förderung und Weiterentwicklung von Modellbildung und Simulation in Grundlagen und Anwendung sowie zur Verbesserung der Kommunikation zwischen Theorie und Praxis) und Sprecherin der ASIM-Fachgruppe »Simulation in Produktion und Logistik«. Zudem bekleidet sie die Positionen der Leiterin des Fachausschusses 204 »Modellierung und Simulation« und der stellvertretenden Leiterin des Fachausschusses 205 »Digitale Fabrik« in der Gesellschaft für Produktion und Logistik im Verein Deutscher Ingenieure und ist Mitglied im dortigen Fachbeirat »Fabrikplanung und -betrieb«.
Die digitale Transformation in der Druckindustrie betrifft neben der Veränderung der Technologien, Abläufe, Prozesse und Organisationen vor allem die Menschen. Führungs- und Management-Systeme, die auf Stabilität und andauernde Optimierung gleichbleibender Prozesse bauen, haben in der Vergangenheit gut funktioniert, stoßen aber hinsichtlich Zeitaufwand, schlechter Effizienz und mangelnder Flexibilität zunehmend an ihre Grenzen.
Entscheidungen und Strategien der Vergangenheit haben uns dahin gebracht wo wir heute sind. Wer glaubt, dass dieselben Entscheidungen und Strategien und das bedingungslose Festhalten daran auch in der Transformation helfen, könnte genau daran scheitern.
Wie können Führungskräfte im Feld der digitalen Transformation mit seinen schnellen Veränderungen die vorhandenen, riesigen Ressourcen und Potenziale ihrer Mitarbeiter aller Generationen (re-) aktivieren, um im Wettbewerb erfolgreicher zu sein? Und das, ohne die Menschen gleichzeitig mehr zu belasten? Garantiert nicht ohne die Bereitschaft zur Veränderung.
Was sollten Führungskräfte in der digitalen Transformation über sich und ihre Mitarbeiter aller Generationen auf jeden Fall lernen, um in der digitalen Transformation neue Wege erfolgreich zu gehen?
Festhalten an alten Strategien und weiter werkeln, oder Hilfe annehmen und Zeit sparen – Ihre Entscheidung!