Variable Fonts – die neue Freiheit im Schriftenkosmos?

Nach Opentype- und Webfonts schicken sich Variable Fonts gerade an, die Typografie zu revolutionieren. 2016 eingeführt, haben mittlerweile nahezu alle Schriftenhersteller variable Fonts im Programm. Ein kleines Schriftenuniversum in einem einzigen Font, die Stile stufenlos per Schieberegler generierbar – was genau steckt dahinter?
Schön neue Typografie-Welt?
Zu Bleisatzzeiten gab es in den Druckereien eine überschaubare Anzahl Satzschriften, mit einem begrenzten Angebot an unterschiedlichen Strichstärken und Laufweiten. Dies änderte sich in der Frühzeit der Fotosatzes; 1957 ersann Adrian Frutiger für seine Univers-Familie eine 21 Schriftschnitte umfassende Systematik. In den 1980ern entstanden die ersten, aus verschiedenen Stilen bestehenden Schriftsippen – geradezu legendär ist die von Kurt Weidemann zwischen 1985 und 1989 für Daimler-Benz entworfene Corporate A-S-E, mit fast fünfzig Schriftschnitten.
In den Folgejahren wurden die Schriftfamilien immer größer, die Musterbücher immer dicker. Ein hoher technischer Aufwand, im Dienste von Differenzierung (zum Beispiel in der Buchtypografie) und Vielfalt (beispielsweise in Werbung und Markendesign).
Interpolation
Variable Fonts funktionieren nach demselben Grundprinzip: Zwischen festgelegten fixen Vorlagen lassen sich per Schieberegler alle Zwischenstufen automatisch generieren; die Zahl der Achsen kann je nach Schriftstil variieren, hier ein Beispiel für fünf Achsen:
- Strichstärke
- Weite
- Optische Größe
- Kursive (italic)
- Schräge (slanted)
Achsen können außerdem für Serifen angelegt sein oder für eine dekorative Ausgestaltung der Grundstriche (Skelett); ein schönes Beispiel dafür ist die Decovar von David Berlow (Font Bureau). Auf fontbureau.typenetwork.com findet man die Schrift und kann nach Herzenslust aus einer Serifenlosen eine verschnörkelte oder eine gestreifte Version zaubern, außerdem stehen zehn unterschiedliche Serifenformen zur Auswahl.
Die mathematisch interpolierten Schnitte der Multiple-Master-Fonts konnten nicht die gleiche ästhetische Qualität haben wie eine Satzschrift mit einzelnen, optisch optimierten Schnitten. Je kleiner der Schriftgrad, umso offener und einfacher müssen die Buchstabenformen sein, bei zugleich geringfügig vergrößerter Laufweite und etwas stärkerer Strichstärke. Die Stempelschneider der Bleisatzzeit wussten das, die Schriftenhersteller der frühen Fotosatzjahre vergaßen es zeitweilig, inzwischen gibt es längst wieder Fonts, die über optische Größen verfügen.

Die Voraussetzungen für einen Erfolg variabler Fonts sind günstig. Erstens weil Adobe, Apple, Google und Microsoft das neue Fontformat gemeinsam entwickelt und es in die Opentype-Spezifikation übernommen haben; zweitens weil mit der Webtypografie ein ganz neuer Anwendungsbereich hinzugekommen ist. Variable Fonts sind dafür prädestiniert. Und sie haben einen Vorteil gegenüber Webfonts: Ihr Datenvolumen ist kleiner. Gut für einen schnellen Ladevorgang. [13583]
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Kommentare zu diesem Artikel
Schon ganz schön gruselig, wenn jeder rumpfuschen kann, wie er/sie lustig ist. Nichts gegen Experimente, aber für derartige Freiheiten sollte man zuerst mal die Grundlagen beherrschen. Denn meistens fehlt es nicht nur den Mediengestaltern sondern leider auch vielen Grafikern und Kommunikationsdesignern an Typografie-Grundlagen.
Zu dieser berechtigten Diskussion lesen Sie hier auf print.de in den kommenden Tagen ein Interview mit Fontwerk-Chef Ivo Gabrowitsch … Titel: »Variable Fonts – Segen oder Fluch?«